15.10.2008 | 09:28 | Berichte und Beispiele

Indische Zeit

Wir strapazieren das schöne Buch "Eine Landkarte der Zeit" viel zu oft, aber es sind einfach so viele interessante, zitierenswerte Stellen drin. Zum Beispiel dieser Bericht des New Yorker Psychoanalytikers Neil Altman über seinen Aufenthalt in Südindien:

"Im zweiten Jahr ließ ich locker und begriff endlich, wie man in einem indischen Dorf leben muss. Da es keine Telefone gab, stand ich oft morgens auf und fuhr mit dem Rad sieben oder acht Kilometer, um einen bestimmten Bauern zu treffen. Wenn ich ankam, stellte ich häufig fest, dass er nicht da war. Manchmal wurde er auch 'bald' zurückerwartet, und das konnte gut und gerne bedeuten, dass er erst am nächsten Tag wiederkam. Im zweiten Jahr verspürte ich bei solchen Vorfällen keine Enttäuschung mehr, weil ich im Grunde schon gar nicht mehr damit rechnete, überhaupt irgend etwas zu erreichen. Es war geradezu eine erheiternde Vorstellung geworden, man könne tatsächlich das erledigen, was man hatte erledigen wollen. Statt dessen setzte ich mich einfach in das Teehaus des Dorfes, lernte neue Menschen kennen oder betrachtete die Kinder, die Tiere und alles, was gerade vorbeikam. Dann geschah manchmal etwas anderes, was ich eigentlich nicht vorgehabt hatte. Manchmal auch nicht. Jegliche Arbeit, die tatsächlich erledigt werden wollte, kam von selbst auf mich zu. (Hervorhebung KP) In meinem zweiten Jahr hatte ich die indische Zeit verinnerlicht."

(Robert Levine: "Eine Landkarte der Zeit", S. 267)